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Dem Puls die Peitsche geben

Ein hochintensives Training stählt in kurzer Zeit die Ausdauer – bei Skirennfahrer Carlo Janka wie bei Herzpatienten
Einige Athleten nennen es «Kotzprogramm». Bereits während des ersten Intervalls ahne ich warum. Ich sitze auf dem Fahrradergometer und gebe Vollgas, bei 180 Watt. Meine Pulsuhr zeigt 167 Schläge pro Minute – 6 mehr, und mein Herz wäre am Anschlag.
«Heja, heja», feuert mich Michael Vogt, Sportwissenschaftler am Swiss Health and Performance Lab (SHPL) in Bern, an, «zwei Minuten hast du schon.» Erst zwei Minuten! Ich muss noch mal zwei und noch mal vier und noch mal vier und
noch mal vier. 4 x 4 Minuten volle Pulle, und jeweils nur drei Minuten Pause zwischen den einzelnen Intervallen – das schaff ich nicht, niemals.
Spitzensportler tun sich solche hochintensiven Trainings (HIT) immer häufiger an. Sie wollen ihre Ausdauer stählen – bei minimalem Zeitaufwand. Selbst die ersten Herzpatienten gehen mit Volle-Pulle-Intervallen an ihre Grenzen. Sie sollen ihr Herz-Kreislauf-System besser in Schwung bringen als lange, langsame Waldläufe. Und auch unter Kraftsportlern
setzt man neuerdings auf das HIT-Prinzip. Die Parole beim Eisenstemmen: kurz, knackig, bis an die Schmerzgrenze (siehe Kasten).

Janka, Gini, Viletta quälten sich zwei Wochen lang – mit Erfolg
Dass HIT schnell Früchte trägt, davon sind Vogt und Kollegen überzeugt. 2008 sorgten sie dafür, dass drei der besten Schweizer Skirennfahrer erstmals einen hochintensiven HIT-Block in ihr Sommertraining einbauten: Carlo Janka, Marc Gini und Sandro Viletta absolvierten während zweier Wochen acht bis zehn HIT-Einheiten; gefolgt von zwei Wochen Ausdauertraining bei niedriger Intensität. Nach der vierwöchigen Plackerei konnten die Topathleten im Schnitt elf Prozent mehr Sauerstoff aufnehmen als zuvor. «Ein Wahnsinnseffekt in so kurzer Zeit», sagt Vogt.
Wie viel Sauerstoff den Muskeln maximal zur Verfügung steht, ist ein Mass für die Ausdauerleistungsfähigkeit – und die gilt es auch im Skirennsport zu stählen. Vogt riet zu HIT, dem Turbotraining. Denn für konventionelle Ausdauerprogramme mit grossen Umfängen haben Skifahrer mit ihren voll gepackten Trainings- und Rennkalendern keine Zeit.
Die Idee, die hinter HIT steckt, ist nicht ganz neu. Mit hochintensiven Intervallen brachte sich vor mehr als 60 Jahren schon Olympiasieger und Langstreckenläufer Emil Zatopek in Form. Sein Motto: Machs dir im Training schwer, dann wirds im Wettkampf leichter. Sein Folterprogramm: 60 x 400 Meter. Auf einer Tagung zum Thema HIT, die kürzlich an der Deutschen Sporthochschule (DSHS) in Köln stattfand, galt HIT als wiederentdeckte Trainingsform. «Die Effekte werden jetzt erstmals systematisch untersucht», sagte Joachim Mester, Trainingswissenschaftler und Rektor der DSHS. Allein in den letzten zwei Jahren gab es mehr als 100 HIT-Studien.
Die Berner Sportwissenschaftler stellten in Köln die ersten Daten ihrer Untersuchung mit 23 Schweizer Ski-Junioren vor: 13 hatten in elf Tagen 15 HIT-Einheiten absolviert, 8 trainierten auf konventionelle Art. Die HIT-Athleten waren den Probanden aus der Kontrollgruppe in vielen Parametern überlegen. So hatten sich ihre Sauerstoffaufnahmekapazität wie ihre Leistungsfähigkeit stärker verbessert. Zudem war das Blutvolumen der HIT-Athleten um zehn Prozent angestiegen, in der Kontrollgruppe waren es «nur» drei Prozent.
In Köln wurden auch Studien mit Fussballern, Turnern und Schwimmern präsentiert. So liessen Kölner Sportwissenschaftler junge Schwimmer zu je 60-minütigen HIT-Lektionen antreten. Die Vergleichsgruppe trainierte 90 Minuten bei mittlerer Intensität und schwamm zwei Kilometer pro Training mehr. Nach fünf Wochen verbesserten die HIT-Athleten ihre 2000-Meter-Zeit um 21 Sekunden; die Schwimmer aus der Vergleichsgruppe schlugen dagegen «nur» 14 Sekunden früher an.

Herzpatienten nehmen 46 Prozent mehr Sauerstoff auf
HIT macht fit, das ist unbestritten. Trotzdem dürfe man jetzt nicht alle alten Trainingsweisheiten über den Haufen werfen, war man sich in Köln einig. «Wir müssen HIT sinnvoll in das bisherige Training einbauen», sagt Vogt. Und so sucht man
derzeit in den einzelnen Disziplinen nach den effektivsten Trainingsprotokollen.
Für HIT geeignet ist die Formel 4 x 4: je vier Minuten bei 90 bis 95 Prozent der maximalen Herzfrequenz, gefolgt von je drei Minuten Pause mit leichter Bewegung. Oder: 20 x 15 Sekunden Belastung, jeweils unterbrochen von 15 Sekunden Pause. Vogt: «Mit ein- bis dreiminütigen Intervallen wird das Herz-Kreislauf-System nicht genügend ausgelastet. Die Ausdauer wird so nicht verbessert.» Wie man sich auf Hochtouren bringt, ist egal: Mit Bergläufen oder auf einem Hindernisparcours.
«Heja, heja, noch 20 Sekunden», ruft Vogt. Meine Lunge pfeift. Ich reisse am Lenker, beisse mich durch, irgendwie. «Super, die erste Runde ist geschafft», lobt Vogt. Er hält mir eine «Wie-anstrengend-war-das-für-dich-Skala» vor die Nase. Ich tippe auf die 19, bei 20 ist Schluss. Pause. Locker pedalen.
Inzwischen hat man die Effekte von HIT auch bei Normalos wie mir untersucht. In einer kanadischen Studie, bei der die
eine Gruppe ihre Ausdauer nach dem Prinzip lange und langsam (10,5 Stunden in zwei Wochen) trainierte und die andere mit HIT (2,5 Stunden in zwei Wochen), waren die Leistungszuwächse und die muskulären Veränderungen in den Gruppen in etwa gleich. Das Herz-Kreislauf-System passt sich dagegen umso besser an, je intensiver die Belastungen sind, hiess es in Köln. So belegen Studien, dass vor allem HIT das Herzschlagvolumen vergrössert und die Arterien dehnbarer macht.
Kein Wunder also, dass inzwischen auch die ersten Herzpatienten in Reha-Studien ihren Puls auf dem Fahrradergometer fast bis ans Maximum peitschen. Norwegische Mediziner liessen bereits mehrere Patienten, die einen Infarkt überlebt hatten und seitdem an Herzschwäche litten, zu einem zwölfwöchigen HIT -Block antreten. Nach dem Training konnten die HIT-Gestählten 46 Prozent mehr Sauerstoff aufnehmen als davor; in der Vergleichsgruppe, die lang und langsam trainiert hatte, waren es nur 14 Prozent. Das Schlagvolumen nahm zudem nur in der HIT -Gruppe zu. Ähnliche Studien wurden bereits mit Patienten durchgeführt, die wegen Durchblutungsstörungen am Herzen operiert worden waren.
In der Kardiologen-Zunft haben die Daten eine Diskussion über die Intensität des Kardiotrainings entfacht. Schon lange wird Herzkranken ein Ausdauertraining empfohlen. «Lang und langsam», war bislang die Parole. Die Sterberate kann so deutlich gesenkt werden.

«Langfristig macht das zu Hause keiner freiwillig»
«Wir favorisieren das auch weiterhin», sagt Josef Niebauer, Kardiologe und Sportmediziner am Salzburger Universitätsklinikum. «HIT machen wir bei unseren Patienten nicht.» Und zwar aus dreierlei Gründen: Je höher die Intensität, desto grösser sei die Wahrscheinlichkeit für Herzrhythmusstörungen. Schlimmstenfalls endet das tödlich. Ausserdem findet Niebauer das Intervalltraining wenig praktikabel. «Es macht zu wenig Spass. Langfristig macht das zu Hause keiner freiwillig.» Und drittens sei noch nicht klar, ob HIT nachhaltig wirke und ob es die Lebensqualität verbessere.
Bei Gesundheits- und Hobbysportlern, die Trainingszeit sparen oder ihre Marathonzeit verbessern wollen, hat Niebauer gegen gelegentliche HIT-Lektionen aber nichts einzuwenden. «Vorausgesetzt, sie sind gesund», sagt er. «Ein HerzCheck inklusive Belastungstest beim Arzt ist im Vorfeld unabdingbar.» Am besten trainiere man das erste Mal unter Anleitung, empfiehlt Sportwissenschaftler Vogt. «Dann weiss man, wie es sich anfühlen soll.»
Für mich fühlt es sich nach jedem Intervall wie «19» an. Gegen Ende des letzten Intervalls wird mir sogar leicht übel. Aber ich schaffe es: 4 x 4 Minuten «volle Pulle». Meine Lunge brennt, ich bin total k. o., aber zufrieden. Und noch bevor ich wieder sprechen kann, erteilt mir Vogt diesen Auftrag: «Das machst du jetzt dreimal pro Woche, vier Wochen lang. Danach testen wir, wie viel mehr Sauerstoff du aufnehmen kannst.» Was für ein Vorsatz für das neue Jahr.

Quellen: Sabine Olff – Sonntagszeitung, 3.1.2010